Heikle Gratiskultur bei der Altersvorsorge: Vom Wert einer unabhängigen Beratung
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Manchmal komme ich mir vor wie eine Finanzärztin: „Könnten Sie sich das mal ansehen, hier, meine Lebensversicherung. Ist die sinnvoll? Und meine Riester-Rente. Ich steig da nicht durch und hab‘ ein schlechtes Gefühl.“
Solche Fragen höre ich sehr oft im Coaching und in meinen Seminaren. Ich würde sogar soweit gehen zu behaupten: Fast alle, die eine private Renten- oder Lebensversicherung, Riester oder Rürup abgeschlossen haben, wissen nicht im Detail, was sie da wirklich unterschrieben haben. Entsprechend groß ist die Unsicherheit. Zu Recht. In den meisten Fällen wurden Sie als Geldanleger’in sehr wahrscheinlich auch gar nicht beraten. Ich meine: Wirklich beraten! Sonst hätten Sie nicht so ein ungutes Gefühl. Sonst wüssten Sie auch, was Sie da haben.
Warum Sie nicht wirklich beraten wurden? Lesen Sie selbst im folgenden Artikel. Er zeigt Hintergründe und Lösungen auf.
Nächstenliebe ist für mich ein wichtiger Wert im Leben. Ich helfe meinen Nächsten gerne weiter, so gut ich kann. Aber manche Mitmenschen nutzen das ganz schön aus. Ist das Naivität, Egoismus oder schon Dreistigkeit? Entscheiden Sie selbst.
Ein aktuelles Beispiel ist eine E-Mail eines nur flüchtigen Bekannten mit 17 konkreten Bitten rund um Anlage- und Vorsorgefragen.
Seine Fragen bezogen sich auf 2 eigene Versicherungsverträge (soll er sie beitragsfrei stellen, kündigen oder doch einfach weiterlaufen lassen?)
Eine einigermaßen sorgfältige und fundierte Bearbeitung aller Fragen wäre selbst mir in einem fleißigen Arbeitstag nicht möglich gewesen. Es hätte länger gedauert.
Die E-Mail war sehr höflich formuliert, bis zum letzten Satz:
„Für Ihre zeitnahe Beantwortung danke ich im Voraus!“
Ein wenig irritiert legte ich den Brief in die Zwischenablage, um in Ruhe nachzudenken, wie ich darauf angemessen reagieren könne.
Schon am übernächsten Tag kam eine weitere E-Mail mit der Weiterleitung der ersten und einer Erinnerung, dass ich doch um zeitnahe Beantwortung gebeten worden sei.
Ganz offensichtlich war der flüchtige Bekannte auf der Suche nach einer persönlichen und individuellen Finanzberatung. Dafür kann man sich beispielsweise an eine Verbraucherzentrale wenden.
Daneben gibt es auch einkaufs- bzw. kundenorientierte Beratung durch unabhängige Honorar-Anlageberater. Eine Liste findet sich bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Einkaufs- bzw. kundenorientiert sind auch:
Viele Honorarberater haben gleich mehrere Zulassungen und können damit verschiedene Teilbereiche „aus einer Hand“ anbieten. Oder Sie stellen fallweise den Kontakt zu weiteren Spezialisten her.
Am besten, Sie schauen ins Impressum der Webseite der jeweiligen Berater. Hier müssen diese ihre entsprechende Zulassung angeben. Den Gegen-Check können Sie im offizielen Vermittlerregister machen unter.
Jedoch sind all diese Beratungsangebote geldwert, also nicht kostenlos, da Ihnen eine Leistung zugrunde liegt, welche Ressourcen bindet und beim Berater oder bei der Beraterin zu Aufwendungen geführt hat.
Kaum jemand würde beim Biobauern in der Nachbarschaft erwarten, die Eier von glücklichen Hühnern oder die Milch von freilaufenden Kühen umsonst zu erhalten, nur weil man sich kennt. Die Lebensmittel sind gegenständlich und wir haben Respekt vor der Arbeit, die nötig war, bis wir das Ergebnis all der Mühe in Händen halten.
Bei einer ungegenständlichen Dienstleistung – so auch bei Finanzdienstleistungen – ist das anders. Hier haben die meisten Menschen wenig Skrupel, „kostenlos“ zuzugreifen bzw. Informationen oder Wissen „abzugreifen“. Oftmals scheinen die Menschen zu empfinden, das Wissen sei ja „ohnehin da“ und sie hätten geradezu ein Recht darauf, es gratis zu erhalten.
Dabei können Kosten und Mühe des Dienstleisters durchaus erheblich sein. Beratung ist die Individualisierung von sehr abstraktem Wissen auf die Verhältnisse des konkret Ratsuchenden. Erst durch Anwendung auf seine konkrete Situation und tatsächlichen Bedürfnisse wird aus dem abstrakten Wissen auch umsetzbarer Nutzen. Und da steckt meist „so richtig Arbeit“ dahinter.
Notare, Steuerberater, Ärzte, Rechtsanwälte und viele weitere „Wissens-Dienstleister“ stellen uns individualisiertes Know-how und konkreten Rat zur Verfügung. Die Mühe und Aufwendungen, bis solche Ratgeber in know-how-intensiven Bereichen überhaupt tätig werden können, sind enorm und setzen meist viele Jahre Erfahrung, Wissenserwerb und meist ein Studium voraus.
Vergleichbares gilt für qualifizierte Finanzberater’innen. Auch bei ihnen ist ein hoher Qualifizierungsaufwand erforderlich, bis sie mit ihrer Dienstleistung am Markt tätig werden können.
Hinzu kommt: Während ein typischer Handwerker Ihnen bei einem Arbeitstag zum Beispiel 8 Stunden Arbeitszeit, oft plus Fahrtkosten, berechnet, können Wissensdienstleister’innen regelmäßig bei einem persönlichen Arbeitstag von – sagen wir – 9 Stunden nur 2 bis 3 Stunden gegenüber ihren Kunden abrechnen.
Denn beim „Rest“ handelt es ich um Hintergrundarbeiten, administrative Tätigkeiten, Weiterbildung oder Pflege/Betreuung von Hilfswerkzeugen wie EDV-Programmen.
Um mit der Entlohnung eines Handwerkers gleichzuziehen, muss der Stundensatz von Wissensdienstleistern also um einen gewissen Faktor höher liegen. Beim obigen Beispiel (nur 3 von 9 Stunden = 1/3) also um den Faktor 3.
Wenn ein Honorarberater also z. B. einen Stundensatz von 200 Euro berechnet, wird er damit ganz sicher nicht reich. Und er ist auch nicht wirklich teuer. Sondern transparent und ehrlich.
Vergleichen Sie einfach mal die Kosten mit denen einer pseudo-kostenlosen Vermittlung im provisionsfinanzierten Vertrieb von Finanz- und Vorsorgedienstleistungen. Die können locker das Zehnfache ausmachen!
Ein Arzt beklagt sich auf einer Grillfete bei einem zufällig anwesenden Rechtsanwalt, dass er sich kaum noch unter Leute oder auf Partys traue. Ständig würde er von Menschen angesprochen, die einen „schnellen“ medizinischen Rat von ihm wegen eines Wehwehchens hier oder einem Zwicken dort haben wollten. Und so verginge mancher Abend damit, dass er zwischen Buffet und Rotwein eine kostenlose Spontansprechstunde gebe. Der Rechtsanwalt weiß spontanen Rat und meint: „Schreiben Sie in solchen Fällen gleich am darauffolgenden Arbeitstag eine Rechnung an die Leute, denen Sie medizinischen Rat gegeben haben!“ Der Arzt bedankt sich beim Rechtsanwalt und holt sich das nächste Glas Rotwein. Zwei Tage später findet er in seiner Post einen Brief des Anwalts. Es ist eine Rechnung …
Warum tun sich viele von uns so schwer damit, für einkaufsorientierte Finanzberatung ein angemessenes Honorar zu zahlen? Das lässt sich durch 2 Punkte erklären:
Erstens unsere geringe Bereitschaft, Geld für ungegenständliche Dienstleistungen zu bezahlen.
Zweitens das allgegenwärtige Angebot von scheinbar kostenloser Finanzberatung durch Finanzproduktverkäufer, Banken, Sparkassen, Versicherungen, Bausparkassen und Finanzstrukturvertriebe.
Eine Kollegin sagte einmal: „Die Deutschen haben kein mentales Konto, für Finanzberatung etwas zu zahlen.“ Sie bekommen sie ja scheinbar überall kostenlos.
Eigentlich ahnen wir, dass es Beratung nicht umsonst geben kann. Und die scheinbar kostenlose Finanzberatung in Wahrheit eine reine Vertriebsleistung ist, die über Provisionen und weitere versteckte Kosten der vermittelten Verträge und somit letztendlich durch uns bezahlt wird. Jedoch unterschätzen wir ganz offensichtlich das Ausmaß dieser Kosten.
Dinge, die scheinbar gratis sind, erweisen sich im Nachhinein als besonders teuer!
Eine Studierende nimmt mit 20 Kolleg’innen an einem scheinbar kostenlosen 2-stündigen Bewerbertraining mit individueller Stärken-Schwächen-Analyse teil. Angeboten „natürlich kostenlos“ von einem Finanzstrukturvertrieb. In einem anschließenden zweiten Termin in den Räumlichkeiten des Finanzdienstleisters, bei dem ein „persönliches Auswertungsgespräch stattfinden soll“, unterschreibt sie wie 4 Kolleg*innen der ersten Runde, einen „Rundum-sorglos-Vertrag“. Ein Bündel unterschiedlicher Versicherungs- und Sparleistungen, die im Zeitablauf ansteigen. Das heißt Beitragsdynamik. Die spätere, gutachterliche Überprüfung dieses angeblichen „Rundum-sorglos-Vertrages“ verursachte erhebliche Sorgenfalten. Das Gutachten stellte fest, dass sich allein die Abschluss- und Vertriebskosten über die Jahre auf über 22.000 Euro summieren, wenn die Studierende den Vertrag planmäßig einhält.
Es macht die Sache nicht besser, dass der größte Teil derartiger „Vorsorgeverträge“ nicht planmäßig eingehalten, sondern stillgelegt oder gekündigt werden. Dies nämlich mit großen finanziellen Verlusten der scheinbar kostenlos, aber sicher schlecht Beratenen. Denn neben den Vertriebskosten sind noch andere Kosten in erheblichem Umfang angefallen. Das besonders Perfide an der Situation: Der „Berater“, in Wahrheit eher ein „Drücker“, hat seine Vertriebsprovision „verdient“ – oder zumindest den Löwenanteil davon.
Lassen Sie uns annehmen, der „Finanzberater“ des Strukturvertriebs hat insgesamt 5 Stunden in die Pseudo-Beratung der jungen Studierenden aus obigen Beispiel investiert. Die 2 Stunden zeitlichen Aufwands für den Workshop sollten durch 5 Abschlüsse geteilt werden. Ergibt also eine halbe Stunde für die Studierende. Die restlichen viereinhalb Stunden sind großzügig bemessen. Dann ergibt sich – allein durch die Abschluss- und Vertriebskosten – ein Stundensatz von 22.000 Euro / 5 = 4.400 Euro.
In diesem Vergleich sind Stundenhonorare von Honorarberater’innen, die keine Abschlussprovisionen von dritter Seite erhalten, doch sehr niedrig.
Die Wirklichkeit ist jedoch noch viel schlimmer. Den enorm hohen Echtkosten der Vermittlung des Provisionstarifs steht gleichzeitig eine noch erheblich schlechtere Produktqualität gegenüber.
Denn der provisionsfinanzierte Vermittler verfolgt ja nicht das Interesse der Studierenden, sondern das des Produkteanbieters. Und er unterliegt dem starken Fehlanreiz, die Produkte zu vermitteln, die die höchsten Provisionen vergüten – die letztlich dann wieder vom Kunden bezahlt werden.
Daneben enthalten diese Verträge im Vergleich auch höhere Verwaltungskosten und sonstige Kosten. Zudem Geschäftsbedingungen und Klauseln, die ein einkauforientierter Finanzberater auf Seiten des Kunden diesem nie zugemutet hätte.
Auf den möglichen Mehrwert einer guten Finanzberatung für Kund*innen will dieser Artikel aus Platzgründen nicht näher eingehen. Es gibt aber seriöse Studien, die diesen Mehrwert auf durchschnittlich rund 2 – 3 Prozent im Jahr schätzen.
# Scheinbar kostenloses Wissen ist meist besonders teuer. Kostenlose Informationsangebote im Internet enthalten häufig einseitige, irreführende und geradezu falsche Botschaften (fake news).
# Wer immer Ihnen anbietet, Sie kostenlos zu beraten, ist in Wahrheit ein Verkäufer und vertritt die Interessen der Produkteanbieter – und nicht Ihre.
# Bei vielen Themen benötigen mündige Selbstentscheider’innen keine Beratung durch Dritte. Wenn Sie den Empfehlungen eines pseudo-kostenlosen Vermittlers nachgeben, wird Ihre Entscheidungsqualität häufig nicht besser sondern schlechter.
# Sofern Ihre Problemstellung externe Hilfe erfordert, ist das Geld für ein Beratungshonorar grundsätzlich gut angelegt. Viel wichtiger als die Höhe des Honorarsatzes ist die Tatsache, dass die Beratung in Ihrem Interesse (also einkaufsorientiert erfolgt).
# Bedenken Sie auch bitte: Investierte Beratungshonorare amortisieren sich durch geringere Kosten des Produktes (bei Netto-Produkten). Oder: falls nur Provisionsprodukte (= Bruttoprodukte) erhältlich sind, durch Weiterleitung dieser Provisionen an Sie als Kunden.
Wie bin ich nun mit den 17 Fragen der doch sehr umfangreichen E-Mail plus Erinnerung des flüchtigen Bekannten umgegangen?
Ich habe ihm ehrlich geschrieben, dass ich ihn nicht beraten darf. Ich habe keine Zulassung dafür, private Finanzberatung zu betreiben. Und das strebe ich auch gar nicht an. Ich darf Bücher und Blogbeiträge schreiben, Vorlesungen, Vorträge und Workshops halten und allgemeines (Fach-)Wissen weitergeben.
Prof. Dr. Hartmut Walz ist einer der führenden Verhaltensökonom und Entscheidungsexperten Deutschlands. Er lehrt Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Verhaltensökonomie, Anlegerverhalten (Behavioral Finance) und Bankbetriebslehre an der Hochschule Ludwigshafen a. Rh. und ist Autor mehrerer Fachbücher sowie des Hartmut Walz Finanzblog. Walz hat sich der neutralen und unabhängigen Information für Privatanleger verschrieben. Ganz neu erschienen ist sein TaschenGuide „Ihre Finanzen fest im Griff – erfolgreiche Geldanlage und Vorsorge in der Nullzinswelt“ bei HAUFE. Sein Motto: Sei kein LeO!
(Der Artikel erschien zuerst auf Walz Blog schliesslich-ist-es-ihr-geld.de.)
Niemand braucht einen finsnzberater, weder kostenlos noch kostenpflichtig.
Ich habe nie verstanden warum aus dem Thema persönliche Finanzen so eine (pseudo-) Wissenschaft gemacht wird.
Das Thema ist nicht kompliziert. Man kann es sehr einfach halten. Die erste Regel lautet die Finanzindustrie und Finanzberater meiden.
Hi Skywalker,
ich verstehe schon, warum die Finanzindustrie so eine „Wissenschaft“ bzw. ein Mysterium um das Thema Finanzen macht. Um besser zu verdienen. Deshalb biete ich ja Finanzbildung an. Damit das Thema zu dem wird, was es ist: beherrschbar. Wie so viele andere Lebensthemen auch.
Für mich lautet die erste Regel deshalb etwas anders: selbst denken und selbst kümmern.