Die Gesellschaft lebt AUF KOSTEN DER MÜTTER – Wie kann finanzielle Selbstbestimmung dennoch gelingen?
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Was haben die Niederlande und deutsche Frauen und Mütter gemeinsam? Sie erarbeiten eine etwa gleich hohe Wertschöpfung pro Jahr. Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied.
2013 lag die Wirtschaftskraft der Niederlande, das Bruttoinlandsprodukt, in der gleichen Größenordnung wie der Gegenwert der Carearbeit in Deutschland: bei rund 830 Milliarden Euro. Die Care-Milliarden, die vor allem Mütter und Frauen erarbeiten, tauchen aber weder im deutschen Bruttoinlandsprodukt auf, noch haben die Frauen finanziell etwas davon. Warum? Weil ihre Sorge- und Hausarbeit nicht bezahlt wird. 2023 dürfte der Gegenwert sogar weit höher liegen als die geschätzten 830 Milliarden von 2013. (Aktuellere Zahlen liegen leider nicht vor.)
Die unbezahlte – und zwischen den Geschlechtern ungleich verteilte – Sorge- und Hausarbeit hat für Frauen und Mütter enorme persönliche Auswirkungen.
„Mütter und pflegende Angehörige erleiden durch die unbezahlte Sorgearbeit einen unglaublichen Ressourcenentzug.“
Sie meinen und hören oft, das sei völlig übertrieben und Frauen hätten sich doch freiwillig für ein Kind entschieden, dann müssten sie auch mit den Folgen leben? Und überhaupt gehöre doch die Mutter zum Kind und nicht der Vater!
Was alles falsch an diesem Denken ist. Welchen Preis Mütter dafür zahlen. Woher das Denken stammt und wie eine gleichberechtigte Teilhabe von Müttern gelingen kann – das lesen Sie im Augen öffnenden Buch „Auf Kosten der Mütter“ von Dr. Birgit Happel.
Birgit Happel ist promovierte Soziologin und gelernte Bankkauffrau. Sie setzt sich seit Jahrzehnten für die Chancengleichheit von Frauen und Müttern ein.
In ihrer Promotion. „Geld und Lebensgeschichte“ beschreibt sie auf Grundlage geführter Interviews, wie die Biografie den Umgang mit Geld und das Denken über Geld beeinflussen — und damit persönliche Lebensentscheidungen und Lebenschancen. Happel prägte daraufhin den Begriff „Geldbiografie“.
Dr. Happel hält Vorträge und arbeitet wissenschaftlich. Sie engagiert sich in Netzwerken, Vereinen und Organisationen wie UN Woman Deutschland, dem Präventionsnetzwerk Finanzkompetenz und der Bürgerbewegung Finanzwende.
Sie betreibt das Finanzbildungsportal geldbiografien.de
Das Buch ist in 6 Kapitel gegliedert und schließt mit dem Fazitkapitel: „Aufblühen statt ausbrennen“.
Kapitel 1 widmet sich dem Klumpenrisiko Mutterschaft ganz allgemein. Klumpenrisiko? In der Tat, denn Mutter zu werden ist in unserem reichen Land mit einem hohen Armutsrisiko verknüpft. Bei Vätern ist es das nicht.
Kapitel 2 folgt der Blick in die Partnerschaft und ungleiche Verteilung der Sorge- und Hausarbeit. Und welche ökonomischen, partnerschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen das für Frauen hat. Happel belässt es aber nicht dabei, sondern zeigt auch Auswege aus der Falle der Brotdosenverantwortung.
Kapitel 3 ist das umfassendste übertitelt mit: „… und raus bist du?“ In diesem geht Happel auf die Erwerbsbiografien von Müttern ein, die sich wesentlich von den Erwerbsbiografien von Vätern unterscheiden. Frauen erfahren, wenn sie Mütter geworden sind, vielfältigste Diskriminierung im Beruf, aber auch in der Partnerschaft und gesellschaftlich. In diesem Kapitel wartet Happel mit Zahlen und Einkommenslücken für Mütter auf, die schockieren und die – wie ich finde –, jede Frau kennen sollte.
„Zwei Drittel der Mütter berichten von Diskriminierungserfahrungen beim Wiedereinstieg nach der Elternzeit. An einem neuralgischen Punkt ihrer Lebensgeschichte widerfährt ihnen Unrecht.“
Im 4. und 5. Kapitel wird es praktisch. Happel skizziert, worauf Mütter achten sollten, um sich abzusichern, zum Beispiel im Falle von Scheidung oder Trennung, mit Budgetplanungen und Liquiditätsreserven. Sie gibt Tipps zur Budgetplanung und erklärt, aus welchen Bausteine solide Finanzen bestehen. Sie hilft mit Selbstcoaching-Fragen, die eigene Geldbiografie zu ergründen. Und fordert die Leser’innen auf zu reflektieren, was Selbstwert mit Geld zu tun hat.
Kapitel 6 handelt vom Investieren in sich selbst und die eigene, finanzielle Selbstbestimmung – als Mutter und Frau. Darin geht sie auch darauf ein, wie sich lohnende von schlechten Finanzbildungsangeboten unterscheiden. Und warum es keine eigenen Finanzprodukte für Frauen braucht und über welche Fehlanreize des provisionsgetriebenen Finanzproduktverkaufs wir Bescheid wissen müssen.
Happel will mit ihrem Buch auf keinen Fall Müttern eine weitere Last auf die Schultern packen nach dem neoliberalen Mantra: Du hast dich für Kinder entschieden, selbst schuld, wenn du jetzt abgehängt wirst. Das alles liegt ganz allein bei dir.
Vielmehr legt sie Kapitel für Kapitel offen, dass die Benachteiligungen von Müttern systemischer Natur sind, geformt von einer männerdominierten Gesellschaft; bis heute. Das drückt sich zum Beispiel in der Steuergesetzgebung aus, im Kindesunterhaltsrecht und in der begrenzten Teilhabe von Müttern in gestaltenden Positionen in Wirtschaft, Politik, Kultur und Wissenschaft.
Es drückt sich aber auch in unser aller Denken in Stereotypen und damit unserem Verhalten uns und anderen gegenüber aus. Wir tragen diese Verformungen in uns, mal mehr, mal weniger. Sie zu ändern, erfordert das Sichtbarmachen der Zusammenhänge, so, wie es Birgit Happel in ihrem Buch nachvollziehbar tut. Des Weiteren erfordert es persönliche, politische und gesellschaftliche Reflexion. Darauf gedeihen dann nachhaltige Veränderungen, damit Frauen für ihre Mutterschaft nicht mehr bestraft und abgewertet, sondern gleichberechtigt und wertschätzend behandelt werden.
Mit dem letzten Satz im Buch ist „Auf Kosten der Mütter“ noch längst nicht zu Ende.
An den Text schließt sich ein übersichtliches Glossar an und eine umfangreiche wie wertvolle Liste von Büchern und verwendeten Quellen.
Dazu werden in einer Extra-Sammlung weiterführende Links, Tools und Rechner via QR-Code zur Verfügung gestellt.
Das ist ein Schatz!
Birgit Happel bringt ihre umfassende Ausbildung und berufliche wie persönliche Erfahrung in das Buch ein. Als gelernte Bankkauffrau und Wertpapierberaterin kennt sie die praktische Materie aus Budgetplanung, Verschuldung, Absicherung und Geldanlage für die Altersvorsorge; als Soziologin und Volkswirtin hat sie sich die gesellschaftlich-strukturellen und ökonomischen Zusammenhänge, denen Familien und insbesondere Frauen ausgesetzt sind, wissenschaftlich erarbeitet.
Das heißt: Das Buch ist gespickt mit Überblicken und Erklärungen, wie wir unsere persönlichen Finanzen solide strukturieren und eine Armutsfeste Altersvorsorge aufbauen können. Happel belässt es also nicht beim Problemaufriss, sondern zeigt, wie Frauen und Mütter finanziell selbstbestimmt bleiben können. Wohl wissend, dass diese persönlichen Lösungen das grundsätzliche Problem der Ausgrenzung, Abwertung und Benachteiligung von Müttern nicht aus der Welt schaffen. Das ist eine politische und gesamtgesellschaftliche, die wir nur gemeinsam lösen können, nicht für uns privat allein.
„Es ist keine individuelle, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe, ökonomische Fallen für Mütter, die empirisch vielfach bestätigt wurden, aus dem Weg zu räumen.“
… bezüglich der finanziellen, strukturellen Nachteile, denen sich Mütter gegenüber sehen, nicht alle, aber eine sehr große Mehrheit. Happel macht die Lebensrealitäten von Frauen und Müttern sicht- und greifbar. Sie zitiert Studienergebnisse und verknüpft sie mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit über den Zusammenhang von Geld und Lebensgeschichte – der Geldbiografie.
Dieser wissenschaftliche Unterbau macht das Buch glaubwürdig und stark. Es ist gleichzeitig ein kompaktes Nachschlagewerk mit den wichtigsten Zahlen und Quellen zum Thema.
Wer jetzt denkt, puh, das Buch einer Wissenschaftlerin! Das liest sich bestimmt langweilig und steckt voller Schachtelsätze. Das Gegenteil ist der Fall. Einmal hineingelesen, ist es schwer, „Auf Kosten der Mütter“ wieder wegzulegen. Birgit Happel streut ab und an auch ihre eigene Lebensgeschichte ein, die geprägt ist von der Betreuung zweier Kinder und einer etwa zehnjährigen Phase, in der sie Angehörige pflegte. Aber auch die gebrochenen Berufsbiografien von Frauen, die sie für wissenschaftliche Studien interviewt hat. Happel weiß folglich aus eigener Erfahrung – und nicht nur aus wissenschaftlichen Studien –, worüber sie schreibt.
Was mir zudem sehr gefällt am Buch „Auf Kosten der Mütter“ sind die zahlreichen Reflexionskästen in den Kapiteln. Sie beinhalten Fragen, mit denen sich Leser und Leserinnen selbst coachen können.
Beispielsweise auf Seite 135 der Reflexionskasten: Könntest du dich selbst versorgen?
Allein die Antwort auf diese Frage kann erschütternd sein, ermutigend, bestätigend, auf jeden Fall sollte sie die Wahrheit wieder spiegeln, denn nur dann führt sie zu einer Veränderung, die uns guttut. Sie führt zu Anschlussfragen, wie: Wenn ich mich nicht selbst versorgen kann, von wem oder was bin ich abhängig; möchte ich das und was ist, wenn sich die Beziehung verschlechtert? Wie fühlt sich das an und vor allem: Will ich das mit allen Konsequenzen?
Oder der Reflexionskasten auf Seite 122 – Kennst du deine eigenen Zahlen? Sehr wertvoll!
„Es ist ein Zeichen von Wertschätzung dir selbst gegenüber, wenn du dich gern um dein Geld kümmerst.“
Besonders Frauen, die Müttern werden möchten, lege ich dieses Buch ans Herz. Damit sie die Chance haben, das, was mit der Mutterschaft ökonomisch auf sie zukommt, für sich gestalten können, um nicht abgehängt zu werden.
Und Müttern, die unzufrieden mit ihrer Situation sind oder das Gefühl haben, ausgebremst zu sein im Leben durch ihre Mutterschaft. Das Buch öffnet den Blick und eröffnet Wege, neu zu denken, für sich einzustehen, mit Vätern, Arbeitgebern oder der weiteren Familie Positionen zu verhandeln, um für sich besser zu sorgen.
„Die Familienplanung ist ein guter Zeitpunkt, um sich mit wichtigen Lebensfragen auseinander zu setzen. Bezieht euch nicht nur auf langfristige, finanzielle Effekte der gerechteren Verteilung von Fürsorgearbeit, sondern besprecht auch die Auswirkungen der Rollenverteilung auf eure beruflichen Karriere- und Entwicklungswege.“
Für Führungskräfte und unsere Abgeordneten sollte dieses Buch zur Ausbildungs-Literatur gehören, denn sie haben es in der Hand, Diskriminierungen von Frauen mit Familie in allen gesellschaftlichen Bereichen zu beenden. Von denen übrigens auch Männer profitieren, denn sie erfahren, wenn sie aktive Väter sind, ebenfalls Diskriminierungen.
Und allen Männern, ob Väter oder nicht, rate ich: Lesen Sie dieses Buch! Damit Sie Ihre Privilegien erkennen und reflektieren können: Warum denke ich oder andere Männer, dass Frauen sich entscheiden müssten zwischen Familie und Beruf, wir Männer aber nicht? Oder, dass Familie und Beruf nur ein Thema von Frauen sei, aber keines der Väter, obwohl auch sie die Kinder haben. Und wie wäre es, wenn es andersherum wäre? Die Frauen als Mütter beruflich auf die Überholspur wechselten und die Väter sich auf der Standspur wiederfänden, mit Sprüchen wie: „Wer sich Kinder anschafft, muss sich auch um sie kümmern.“ „Haben Sie keine Frau, die Geld verdient? Müssen Sie wirklich arbeiten?“, „Sie wollen doch gar keine Führungsposition übernehmen!“, oder „Das Kind gehört zum Vater und Hausarbeit ist doch Männersache!“
Birgit Happel schreibt das klar und deutlich. Den Kinderwunsch von Frauen gegen ihren Wunsch nach finanzieller Eigenständigkeit auszuspielen, verletzt die Integrität von Müttern. Das zu erkennen, dabei hilft das Buch von Birgit Happel und zeigt Auswege aus dieser gesellschaftlichen und partnerschaftlichen Falle.
Ein kluges Buch, von der ersten bis zur letzten Zeile. Und ein detailliertes Nachschlagewerk dazu. Lesen Sie es! Verschenken Sie es, reden Sie über die Zusammenhänge. Im Buch finden Sie Argumente und Quellen, die Sie brauchen. Hinterfragen Sie persönlichen Denkmuster gegenüber Mutterschaft, die viel zu oft romantisiert wird, der Rolle von Vätern, Männern, Arbeitgeber‘innen und Institutionen.
Birgit Happel
Auf Kosten der Mütter. Warum finanzielle Selbstbestimmung für Frauen mit Familie so wichtig ist
Verlag Kösel, 2023
Paperback, 240 Seiten
18,00 €
Interview mit Birgit Happel im SWR1 – Leute. Über Geld sprechen? Unbedingt!, Moderatorin: Katja Heijnen, 55 Minuten
Transparenzhinweis: Ich kenne Birgit Happel persönlich. Wir sind befreundet und arbeiten im Präventionsnetzwerk Finanzkompetenz zusammen. Ich schätze die wissenschaftliche Bildungs- und Forschungsarbeit von Birgit und sie als Mensch sehr. Sie tritt seit Jahrzehnten für die (finanziellen) Belange von Frauen ein, rüttelt mit Fakten und Zusammenhängen wach und stellt sich nicht wie andere stets in den Vordergrund. Sie zeigt Frauen seit mehr als 15 Jahren, wie sie sich finanziell emanzipieren und Vermögensaufbau betreiben können.
Klasse Beitrag. Danke für den Buchhinweis.