Inflationsrate – Warum die Europäische Zentralbank trotz steigender Preise nicht handelt
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Anfang Juli musste ich tief durchatmen. Am 8. Juli 2021 verkündete die Europäische Zentralbank (EZB), dass sie ihre wichtigste Kennzahl verändert hat. Nämlich die, mit der sie ihre Aufgabe als Hüterin des Euro legitimiert und mit der sie die Kaufkraft der europäischen Währung versucht, stabil zu halten und damit die Inflationsrate. Diese heißt offiziell „Harmonisierter Verbraucherpreisindex“, kurz HVPI.
Was nach einer kleinen Sache klingt, einer unscheinbaren Veränderung, manche könnten es sogar als Wortklauberei ansehen, ist ein weiterer Wechsel in der Strategie der Europäischen Zentralbank. Kein guter.
Eine der Folgen sehen wir mit Blick auf die aktuelle Inflationsrate. Sie steht für September in Deutschland bei 4,1 Prozent.
Was hat die EZB verändert?
Das Inflationsziel ist nicht irgendein Ziel, worüber die EZB jedes Jahr neu diskutiert, so wie wir unsere privaten und beruflichen Ziele.
Das Inflationsziel ist
Das Inflationsziel zieht also die entscheidende Grenze für die Inflation in der Eurozone.
Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union legt in Artikel 282 fest, dass das vorrangige Ziel der EZB ist, Preisstabilität zu gewährleisten. Der EZB-Rat, das oberste Gremium der Notenbank, legte daraufhin 1998 die bekannte Definition fest:
„Preisstabilität wird definiert als Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) für das Euro-Währungsgebiet von unter 2 % gegenüber
dem Vorjahr. Preisstabilität muss mittelfristig gewährleistet werden.“
Nach einer Überprüfung der geldpolitischen Strategie 2003 stellte der EZB-Rat klar: Das Ziel, mittelfristig eine Preissteigerungsrate von „unter, aber nahe 2 Prozent“ beizubehalten.
Das war seit Gründung der EZB also die Messlatte für die Inflationsrate der Eurozone. Nahe, aber unter 2 Prozent. Betonung auf UNTER 2 Prozent. Eine klare Definition, wann Preise als „stabil“ gelten, nämlich dann, wenn sie weniger als 2 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat gestiegen sind. Steigen sie darüber, ist die Preisstabilität in Gefahr und die EZB muss ran.
Das ist ihr Auftrag, so wie für James Bond, dessen Auftrag es ist, die Welt zu retten, so rettet die EZB die Preise. Oder so, wie wir uns retten, wenn der Blutdruck zu hoch ist oder das Gewicht oder der Puls. Dann müssen wir etwas tun, um gesund zu bleiben. Sport zum Beispiel und das Umstellen der Ernährung. Genauso das gilt auch für das Inflationsziel.
Steigt die Inflationsrate über das Inflationsziel von 2 Prozent, muss sich der EZB-Rat mit der Anhebung der Leitzinsen für die Eurozone auseinandersetzen, fällt die Inflationsrate unter 2 Prozent, mit der Senkung der Leitzinsen. Die Leitzinsen sind der Hebel jeder Notenbank*, um zu versuchen, die Inflationsrate wieder einzufangen — oder anzufeuern.
Was also bis Juli garantiert war: Steigt die Inflation auf über 2 Prozent, steigt der Druck auf die EZB, den Leitzins bald zu erhöhen, um zu versuchen, die Inflation auf unter 2 Prozent zu drücken.
Mit ihrem Strategiewechsel hat die Europäische Zentralbank eine zuverlässige Kennziffer, selbst gesetzte und immer gut begründet, aufgegeben. Jetzt lautet die Definition von Preisstabilität:
„Nach Auffassung des EZB-Rats sei Preisstabilität am besten zu gewährleisten, indem mittelfristig ein Inflationsziel von 2 Prozent angestrebt werde.“
Der EZB-Rat begründet das unter anderem damit, dass das alte nahe-und-unter-2-Prozent-Ziel als „zu kompliziert angesehen worden“ war und es „gelegentlich zu Fehleinschätzungen“ gekommen sei.
Puh, so eine Erklärung in einer offiziellen Mitteilung zu lesen! Es erinnert mich an die Geschichte „Des Kaisers neue Kleider“, in dem selbst gebildete Menschen sich weis machen lassen, dass der Kaiser schick gekleidet ist, obwohl er nichts anhat.
Die Grenze der Inflationsrate, „nahe, aber unter 2 Prozent“, mittelfristig einzuhalten, lässt für mich wenig Spielraum. Jetzt ist dem Spiel viel Raum gegeben worden.
Denn was bedeutet denn „mittelfristig ein Inflationsziel von 2 Prozent“ ? Es bedeutet, dass, selbst wenn die Inflation anzieht, die EZB nicht eingreift. Weil ihr Ziel ja nur irgendwie 2 Prozent ist. Mittelfristig.
Sie kann sich also sehr viel Zeit nehmen, innerhalb von 1 bis 3 Jahren, und Inflationsraten von deutlich über 2 Prozent hinnehmen, ohne sofort Druck zu bekommen, den Leitzins nach oben zu korrigieren.
Die EZB kann damit höhere Inflationsraten zulassen, ohne verbindlich mit der Anhebung der Leitzinsen reagieren zu müssen.
Die Entscheidung kam, nachdem die Inflationsrate schon vier Mal über 2 Prozent lag: April=2,1 %, Mai=2,4 %, Juni=2,1 %, Juli=3,1 %.
Wir hätten also jetzt schon längst eine öffentliche Diskussion um die Höhe des Leitzinses in der Eurozone und das Agieren der EZB. Stattdessen haben wir ein neues Inflationsziel.
Würde die EZB den Leitzins anheben, würden sich die kurzfristigen Zinsen für Kredite mit nach oben bewegen. Das ist das Ziel dieser Übung. Will eine Notenbank die Preise stabil halten, verändert sie die Leitzinsen.
Höhere Leitzinsen bedeuten, dass Unternehmen sich dreimal überlegen, ob sie neue Kredite für neue Produkte oder Innovationen aufnehmen, neue Mitarbeiter’innen einstellen, höhere Umsätze generieren und dadurch mehr Geld schneller im Wirtschaftskreislauf umläuft — was Inflationstreiber sind. Nehmen Unternehmen weniger Kredite auf, verringert das den Druck auf die Preise. So jedenfalls eine sehr einfache Darstellung.
Der wichtigste Leitzins der EZB ist der Zinssatz, zu dem sich die Geschäftsbanken Geld von ihr leihen; das ist der sogenannte Hauptrefinanzierungszins. Dieser steht seit März 2016 bei 0 Prozent (Okt. 2021). Die Banken erhalten Geld von der EZB also gratis.
Parallel kauft die EBZ seit Jahren in großem Umfang Unternehmens- und Staatsanleihen von Banken — also als Wertpapiere verbriefte Kredite von Staaten und Unternehmen. Das Ziel, das sie damit verfolgt ist, gleicht dem Hebel des Leitzinses. Sie hält mit den Anleihekäufen die Kreditzinsen in Euroland auf einem niedrigen Niveau.
Die EZB flankiert also mit der Aufgabe des bisherigen Inflationsziels von unter 2 Prozent ihr Vorgehen seit 2008: das Stabilisieren der kurzfristigen Kreditzinsen. Koste es, was es wolle.
Staaten zum Beispiel mit hohen Schulden, Banken mit überholten und teuren Geschäftsmodellen, Zombiefirmen und Menschen mit Aktien- und Immobilienvermögen.
Wer verliert? Menschen mit niedrigen Einkommen und ohne Vermögen, weil sie mit ihrem wenigen Geld höhere Preise zahlen müssen, die ihre finanziellen Spielräume zusätzlich einschränken.
Für Menschen mit viel Geld fallen hohe Inflationsraten nicht stark ins Gewicht. Sie können umschwenken auf immer noch günstigere Produkte. Oder geben einfach ein wenig mehr von ihrem vielen Geld aus.
Müssen wir uns also auf hohe Inflationsraten einstellen? Das ist zu befürchten.
Der Zusammenhang ist allerdings komplex und nicht eindeutig kausal von wegen: hier die Ursache und da die vorhersagbare Wirkung.
Nur, weil die EZB aber zusätzlich viel Geld in Umlauf bringt über die Anleihekäufe und jahrelang den Haupt-Leitzins bei Null hat, heißt das nicht, dass es Inflation gibt. Die gibt es erst, wenn das Geld in Bewegung kommt — also zu Konsum oder Geldanlegen führt. Oder externe Schocks wie Corona oder die Finanzkrise das Geld- und Wirtschaftsgefüge erschüttern. Oder sich Erwartungen an die Zukunft verändern.
Geldpolitik ist nicht: Ich gebe vorn 2 rein und hinten kommen 4 raus. Viel Geld heißt nicht: viel Inflation. Auch deshalb wird Geldpolitik oft als Mysterium wahrgenommen und konnte der US-Notenbankchef Alan Greenspan als „Orakel“ gelten.
Kluge und weniger kluge Menschen streiten seit Jahrzehnten, wie Inflation genau entsteht und sie wieder einzufangen ist und wer überhaupt bewertet, was richtig und falsch ist. Ich streite hier nicht mit.
Was wir wissen, ist: Die EZB wird in den nächsten Jahren höhere Inflationsraten zulassen, ohne den Leitzins zügig anzuheben. Wann sie einschreitet, ist ungewisser als es jemals war. Und das ist keine gute Entwicklung.
Das Thema Inflation wird uns in den nächsten Jahren oft beschäftigen. Panik nützt aber nichts. Sehen wir den Dingen ins Auge. Wichtig ist, sich finanzschlau damit auseinander zu setzen und sich für sein eigenes Geld die richtigen Gedanken zu machen.
Eine Einführung in das Thema kann das Webinar sein, das ich mit Prof. Dr. Hartmut Walz geführt habe. Wir sprachen über den konstruktiven Umgang mit Crashgefahren, Niedrigzinsen und Inflation. Hören Sie gern rein und sichern Sie sich die im Webinar verwendete Präsentation von Prof. Walz:
*Zentralbanken haben das Geldmonopol. Sie allein leihen den Banken Zentralbankgeld als Bar- und Buchgeld gegen Zahlung eines Zinssatzes, den Leitzins. Mit dem Zentralbankgeld arbeiten die Banken dann und so kommt das Geld in den Wirtschaftskreislauf — und zu uns. Und genau über diesen Leitzins beeinflussen Notenbanken wie die EZB die kurzfristigen Zinssätze im Wirtschaftsleben maßgeblich. Nicht ausschließlich aber zum großen Teil.
Bleiben Sie dran an Ihrem Geld. Holen Sie sich hier meinen kostenfreien Rundbrief.
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Entsteht Inflation nicht dann, wenn die Nachfrage höher ist als das Angebot? Passiert das nicht dann zum Beispiel, wenn – wie jetzt weltweit – waren Transportketten ins Stocken geraten? Solange genug Geld im Markt ist, jedoch die Waren knapp werden, müsste Inflation doch die logische Folge sein. Könnte das nicht viel schneller eine Eigendynamik mit „Waren-Run“ bewirken, als jede Zentralbank es beeinflussen kann, weil deren Entscheidungen nicht kurzfristig wirken?
Liebe CaptnKirk,
ja, das ist ein Inflationstreiber, wenn auf der Nachfrageseite Ressourcen knapp werden. Es gibt dazu die Angebotsseite – das ist das Bereitstellen von Geld durch die Notenbanken.
Es gibt viele Inflationstreiber. Sie wirken alle zusammen und sind nicht voneinander trennbar. Ist nicht soviel Geld in der Welt, und verteuern sich Rohstoffe z. B., regt das Innovationen an, um den teuren Rohstoff zu umgehen. Ist viel Geld da, wird wirtschaftlicher Wandel hinausgezögert.